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Zeitzeugenprojekt im Exerzitienhaus

Vom 4. bis 13. Februar 2020 waren fünf polnische Zeitzeuginnen im Exerzitienhaus Hofheim und erzählten Schulklassen ihre Geschichten.

Damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt

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1000 Schülerinnen und Schüler kamen zum Gespräch mit fünf Überlebenden des Holocausts ins Exerzitienhaus Hofheim.

In der Woche vom 5. bis 13. Februar 2020 kamen rund 1000 Schülerinnen und Schüler aus dem Main-Taunus-Kreis ins Franziskanische Zentrum für Stille und Begegnung, Hofheim, zum Zeitzeuginnengespräch. Eingeladen hatten das Bistum Limburg, Pax Christi und das Maximilian-Kolbe Werk. Fünf polnische Frauen aus Warschau und Krakau, Überlebende aus Ghettos und Konzentrationslagern, waren zusammen mit den Organisatoren und Dolmetschern eine Woche lang zu Gast im Exerzitienhaus. Die Frauen erzählten die erschütternden Geschichten aus ihrer Kindheit und führten Gespräche mit den Schüler*innen, Teamer*innen, den Brüdern des Hauses und untereinander. Zudem waren am Dienstag, 11. Februar Interessierte zum öffentlichen Zeitzeuginnengespräch mit Krystyna Budnicka (Bild rechts), Jahrgang 1932, aus Warschau eingeladen.

Die Lebensgeschichte dieser Frau hört sich wie ein Krimi an. Tatsächlich sind die Verbrechen, die Deutsche an polnischen und europäischen Juden verübten, außerhalb jeder Vorstellungskraft. Krystyna, die als Kind auf den jüdischen Namen Hena Kuczer hörte und erst später den Namen Krystyna Budnicka annahm, erzählt: „Ich hatte sieben Brüder und eine Schwester. Ich war ein fröhliches Kind und erlebte eine unbeschwerte Zeit vor dem Krieg. Meine Familie war tief im jüdischen Glauben und den Traditionen unseres Volkes verwurzelt, mein Vater war Tischler und schreinerte in seiner Werkstatt Holzmöbel. Mit sechs Jahren konnte ich die Grundschule besuchen.“

Am 1. September 1939 erklärte Hitler den Krieg an Polen, bald fielen die ersten Bomben über Warschau. Familie Kuczer zog sich in die Tischlerei im Keller zurück, noch nicht ahnend, was auf sie zukommen wird. Bereits 1940 trieben die Nazi-Besatzer alle polnischen und europäischen Juden der Stadt - es waren vor dem Krieg etwa 350.000 Personen - im so genannten „Jüdischen Wohnbezirk“ zusammen. Bereits am 16. November 1940 stand um das Warschauer Getto eine 18 Kilometer lange und drei Meter hohe Mauer und riegelte das Areal hermetisch ab. Außerdem hinderte der obligatorische Judenstern die Bewohnerinnen und Bewohner des Gettos, sich frei zu bewegen.

Das Haus der Kuczners lag schon in der Vorkriegszeit im Bereich des späteren Gettos. So hatten sie den Vorteil, nicht umziehen zu müssen. Vaters Arbeit war gefragt, nach dem Zwangsumzug mussten viele ihre kleinen Behausungen wenigstens notdürftig einrichten.  Noch immer bestand die Hoffnung, der Krieg könnten vielleicht schnell zu Ende gehen und dann würde sich alle normalisieren. Viele Juden im Getto ließen sich vom Tischler Kuczer Geheimfächer und Schatullen anfertigen, um darin Wertsachen wie Schmuck oder Fotoapparate zu verbergen - für die Zeit danach, wie sie dachten. Die Hoffnung trog - die Häuser wurde systematisch durchsucht. Krystyna Budnicka erzählt: „Die Versorgung im Getto brach nach und nach zusammen. Der Hunger trieb manche jüdische Familie soweit, dass sie die Leichen Verstorbener anonym irgendwo auf der Straße niederlegten, um deren Lebensmittelzuteilung nicht zu verlieren.“

Als die Nazis auf perfideste Weise den jungen Frauen und Männern im Getto Arbeit außerhalb von Warschau anboten, meldeten sich auch zwei von Hennas Brüder. Wie viele andere kamen sie zum Sammelplatz, wo Züge sie zum „neuen Arbeitsplatz“ bringen sollten. Ihr Weg führte allerdings nach Treblinka und dort unmittelbar in die Gaskammern.  Einem einzigen gelang die Flucht zurück ins Getto. Die Nachricht vom Schicksal der Deportierten sprach sich schnell im Getto herum, sodass sich keine Arbeitswilligen mehr meldeten. Zurück blieben jedoch unendlich viele Waisenkinder, die sich erhofft hatten, dass Mutter und Vater wieder zurückkommen. In der Folge zogen SS-Leute durch die Häuser und bestimmten wahllos Frauen, Männer und Kinder für die Deportation. Um sich zu schützen, bauten viele Gettobewohner Schächte, Kaminattrappen, unterirdische Bunker oder Tunnels, in denen man sich verstecken konnte.

Im Jahre 1943 lebten noch etwa 50.000 bis 70.000 Juden im Warschauer Getto. Inzwischen war bis hierhin die Nachricht von den schweren Kriegsverluste der deutschen Wehrmacht durchgesickert. Der Hoffnungsfunke, die Nazis seien kriegsgeschwächt, war wohl eine der Motivationen, den bewaffneten Aufstand zu wagen. Am 19. April 1943 begann die Revolte. Krystyna Budnicka berichtet: „Auch einige meiner Brüder waren dabei. Im Grunde hatten die Aufständischen keine Chance, sie hatten zu wenig Waffen und waren in schlechter körperlicher Verfassung, aber sie wollten lieber selbst über ihren Tod bestimmen als sich dem mörderischen Tun der Nazis überlassen.“

Der Widerstand wurde brutal niedergeschlagen. Mehr noch: Die Nazis legten als Reaktion auf den Aufstand Haus für Haus und Straße für Straße in Brand. Viele Juden kamen in den Flammen um, einige konnten sich in die unterirdischen Bunker retten. Zu den wenigen, die am Leben blieben, gehörten die 11-jährige Henna mit ihrer Familie. Die Brüder, angeführt von Rafal, den sie „Kapitän“ nannten, hatten sich einen unterirdischen Bunker gebaut und zogen sich mit einer etwa 30-köpfige Gruppe dorthin zurück. „Wir spürten die Hitze, die von oben kam“, erinnert sich Krystyna Budnicka, „nicht wenige der Warschauer Juden begingen in dieser aussichtlosen Lage Suizid, einige sprengten sich und ihre Bunker in die Luft.“ Familie Kuczner konnte fünf Monate in diesem unterirdischen Versteck überleben, dann wurde der Bunker entdeckt. Zwei der Brüder kamen dabei um. Henna, ihren Eltern, ihrer Schwester Perla, den Brüdern Rafal und Jehuda sowie einer Schwägerin gelang es, zu entkommen - ein Tunnel, der zur Abwasserkanalisation führte, war ihre Rettung. Als Rafal schwer krank wurde - vermutlich, weil er von verunreinigtem Wasser getrunken hatte, gab es für ihn nur einen Ausweg: er musste über einen Kanaldeckel aussteigen und Hilfe suchen. Tatsächlich hatte er Glück: sie waren ja inzwischen auf der anderen, der, wie Krystyna Budnicka sagt, „arische“ Seite. Hilfsbereite Polen brachten den Bruder zu einem Arzt, der ihn behandelte. Weiter Krystyna: „Mein 13-jähriger Bruder Jehuda hatte das Kanalisationssystem erkundet und perfekt in sein Gedächtnis eingeprägt. Er wusste genau, wo wir waren und wo sich wenig kontrollierte Aus- und Eingänge befanden. Nachdem unser Ältester ausgestiegen war, übernahm er jetzt die Führung der Gruppe“. Zu ihrem Glück gab es hier, auf der polnischen Seite eine geheime Organisation, die sich die Rettung von Juden zum Ziel gesetzt hatte. Solche Hilfestellung war höchst gefährlich, jeder, den die Nazis dabei erwischten, wurde sofort erschossen. Krystyna: „Über die Kanalisationsdeckel gelang es, die Straßengeräusche zu hören und auch den Rhythmus der Kontrollgänge festzustellen. In den Zwischenzeiten konnten die polnischen Helfer den Eingeschlossenen unbeobachtet Lebensmittel zukommen lassen. Auf die Dauer war der Aufenthalt im Kanalisationsgängen jedoch unmöglich. Zudem wussten auch ihre Verfolger von diesen Fluchtwegen und versuchten, sie mit Gasbomben unpassierbar zu machen. Die Eingeschlossenen sandten Hilfezeichen an ihre Komplizen und endlich kam auf einem Zettel die Nachricht: „Wir kommen heute Nacht, um euch abzuholen“. Die Rettung scheiterte, der vereinbarte Kanaldeckel war verschweißt. Man legte einen anderen Punkt zum Aussteigen fest, um ihn zu erreichen, musste die Gruppe allerdings durch den Kanalstrom schwimmen. Krystyna Budnicka sagt: „Für die Eltern war dies viel zu anstrengend, sie blieben zurück und mit ihnen meine ältere Schwester Perla. Ein trauriger Abschied - für immer. Ich habe meine Eltern und meine Schwester nie mehr gesehen noch etwas von ihnen gehört“. Die Elfjährige, zwei Brüder und ihre Schwägerin wurden schließlich von polnischen Helfern aus dem Kanal gezogen und - um nicht erkannt zu werden - in Säcke gesteckt und abtransportiert. Unterschlupf fanden sie vorläufig in einem abgebrannten Haus im Zentrum der Stadt. Der insgesamt 9-monatige Aufenthalt unter der Erde blieb nach der vorläufigen Rettung jedoch nicht ohne bleibende Folgen. Jehuda, der 13-jährige, der allen zur Flucht verholfen hatte, starb zwei Wochen nach der Evakuierung an einer Blutvergiftung. Rafal, der Älteste, den sie wiedergefunden hatten, wurde vom Sohn des Hausmeisters an die Nazis verraten und von diesen erschossen. Am Schluss war die 11-jährige Hena allein. Ihr letzter Gastgeber sah in einer Menschenmenge eine Gruppe von Ordensschwestern und bat diese, sich um das Kind zu kümmern. Auf die Frage, wie sie denn heiße, antwortete sie, um ihre jüdische Identität nicht zu verraten: „Krystyna Budnicka“, und diesen Namen behielt sie bis heute. Nun hatte sie das Glück, in einem katholischen Waisenhaus aufzuwachsen und dort in die Schule zu gehen. Sie studierte Pädagogik, hatte es jedoch im stalinistischen Polen als praktizierende Katholikin - sie hatte sich im Waisenhaus taufen lassen - schwer, eine Stelle als Lehrerin zu finden. Lange lebte sie in einer kleinen Dachgeschosswohnung nicht weit entfernt vom früheren Getto. Heute lebt Krystyna Budnicka in einem Plattenbau Warschaus. Mit ihren 88 Jahre ist sie auch immer noch eine taffe, lebensfrohe Frau: „Ich atme. Warum soll ich mich also beschweren?“ sagt sie.

Die Geschichten der Zeitzeuginnen zeigen die mörderischen Grausamkeiten der Nazis, sie zeugen andererseits auch von Überlebenswillen der Opfer und von der Solidarität mutiger Menschen über die Grenzen der Nationen und Religionen hinweg. Für die Schülerinnen und Schüler war dies wohl der stärkste Eindruck. Immer wieder kamen Fragen wie diese: Wie kommt es, dass Menschen zu solchen Verbrechen fähig sind? Welche Gründe haben Antisemitismus und Rassenhass? Und wie ist es möglich, dass Menschen ihr Leben riskieren, um andere zu retten? - Ist es die Ironie der Geschichte, dass am 5. Februar 2020, als das Zeitzeuginnengespräch in Hofheim begann, im fernen Thüringen ein Ministerpräsident mit Stimmen der fremdenfeindlichen der AfD gewählt wurde? Es gilt auch heute, den Anfängen zu wehren.

Helmut Schlegel OFM