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Corona-Pandemie

Gedanken von Thomas Tauchnitz

Was ich durch die Corona-Pandemie gelernt habe            

Einige Gedanken von Thomas Tauchnitz, dem Vorsitzenden des Freundeskreises             

 

1. Wir haben unsere Gefährdung kennengelernt.

Wir fühlten uns sicher hier in Deutschland. So etwas kannten wir nicht oder zumindest nicht bei uns: Epidemien mit unbekannten, nicht behandelbaren Krankheiten; ein hohes Ansteckungsrisiko; tödliche Verläufe. Wir haben das Gefühl einer vermeintlichen Sicherheit verloren. In einem kleinen Maß nur – kein Vergleich mit früheren Zeiten mit Pest und Pocken – aber doch sehr ernst und bedrohend.

Jesus sagt über den Mann, der eine große Scheune für die reiche Ernte bauen will: „Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern“ (Lk 12,18ff). Durch Corona ist mir bewusstgeworden, dass ich wie dieser reiche Mann gelebt habe. Natürlich weiß ich, dass ich jederzeit sterben kann, aber dieses Wissen ist mir jetzt zum deutlichen Gefühl geworden. Danke ich Gott täglich für das geschenkte Leben? Und gehe ich mit meiner Zeit und meinem Geld so um, wie es dieser Situation entspricht?

2. Wir sind uns unserer Abhängigkeit von anderen bewusster geworden.

Eigentlich hatten wir in der Krise keinen materiellen Mangel, von fehlendem Klopapier und Nudeln abgesehen. Alles funktionierte: Supermärkte, Krankenhäuser, Tankstellen, Bäcker, Polizei. Wir haben gelernt, welche Berufe „systemrelevant“ sind: Es sind nicht die gut bezahlten Bürotätigkeiten, sondern die schlecht bezahlten Leute vor Ort: Kassiererinnen, Pfleger, Handwerker, Polizisten. Die machten ihre Arbeit, obwohl es noch keine Masken gab und keine Plexiglaswände. Ärzte und Pfleger kümmerten sich um ihre Patienten und wurden dabei selbst abgesteckt und starben.

„Alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, (bilden) einen einzigen Leib“, sagt Paulus (1 Kor 12,12). Alle Glieder unserer Gesellschaft bilden eine einzige Gesellschaft. Und alle sind wichtig. Gleich wichtig! Behandle ich alle Menschen in ihren Berufen als gleich-wertig? Setze ich mich dafür ein, dass die Menschen in den „systemrelevanten“ Berufen höhere Gehälter bekommen? Und leiste auch ich meinen redlichen Beitrag für die Gesellschaft?

3. Wir haben gelernt: Wenn es den Armen schlecht geht, geht es auch uns schlecht.

Was nützt es, wenn die Gebildeten in den Büros, die Wohlhabenden in ihren Häusern Abstand halten? Wenn gleichzeitig die Armen in Sammelunterkünften leben, die Flüchtlinge dicht an dicht in ihren Containern oder Zeltplanen, die ausländischen Familien mit drei Kindern pro Zimmer im Hochhaus? Wenn im Schlachthof Schulter an Schulter gearbeitet wird? Die Verbreitung des Virus hängt von der Situation der Armen ab. Und da es Kontakte gibt, bleibt das Virus nicht bei den Armen.

Über die junge Gemeinde nach Pfingsten wird berichtet: „Alle bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. … Sie gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apg 2,44f) Das tun wir wirklich nicht, wir geben den Armen nicht, was sie nötig haben. Das macht sie krank und dann auch uns. Was kann ich dafür tun, dass jeder bekommt, was er nötig hat?

4. Die Armen trifft es viel mehr als uns. Die Krise vergrößert die Ungerechtigkeit.

Die Krise macht fast alle von uns ärmer. Aber es sind die Armen, die sie in Not bringt. Bei Mindestlöhnen reicht das Kurzarbeitergeld nicht. Die fehlenden Tafeln und Sozialkaufhäuser machen Hartz IV völlig unzureichend. Farbige in den USA haben ein dreimal höheres Infektionsrisiko und sterben sechsmal häufiger als Weiße. Tagelöhner sterben bei Ausgangssperren nicht an Covid-19, sondern am Hunger. Ohne Schulspeisung, durch ausfallende Impfungen und fehlende Medikamente und durch Hunger rechnet man damit, dass 1,2 Millionen Kinder sterben werden – viel mehr als wahrscheinlich insgesamt Menschen an Corona sterben.

„Gebt ihr ihnen zu essen“, sagt Jesus zu seinen Jüngern, als die Menge müde und hungrig war. Ich höre, dass er es heute auch zu mir sagt. Ich will nicht in einer Welt leben, wo die Armen immer mehr leiden als alle anderen und wir das schulterzuckend hinnehmen. Almosen geben ist keine Großzügigkeit, sondern unsere Pflicht.

5. Wir sehen, wie wichtig es ist, auf die Wissenschaft zu hören und vernünftig zu sein.

Viele Regierende haben die Gefahr von Corona geleugnet, es wie eine normale Grippe behandelt und zu spät reagiert. Wer bei einer Verdopplung alle 3 Tage nur eine Woche zu spät handelt, hat vier Mal so viele Kranke und Tote. Wir sehen mit Schrecken, wie falsche Informationen („fake news“) gestreut werden, die die Wahrheit ignorieren. Wie Verschwörungstheorien Anhänger finden. Wie Ungeduld angestachelt wird. Und wie aus Glaubens-Fundamentalismus gepredigt wird, dass Gott das Virus abhalten würde, wenn man nur intensiv genug glaubt und betet. Da werden Gottesbilder hochgehalten, die nicht dem Leben dienen.

Jesus betont, dass wir „klug wie die Schlangen“ sein sollen (Mt 10,16) und unseren Verstand einsetzen: Vor dem Baubeginn rechnen, ob die Mittel reichen. Vor einem Krieg erkennen, dass man nicht genug Soldaten hat (Lk 14,28-32). Mache ich mich ausreichend schlau? Verstehe ich die Zusammenhänge und kann sie auch erklären? Habe ich den Mut, zu widersprechen, wenn jemand Lügen verbreitet oder verharmlost? Und habe ich das Vertrauen und die Geduld, auch mal Regeln zu akzeptieren, die mir nicht verständlich sind?

6. Die Verlangsamung hat auch Chancen für unsere Seele.

Ich will die massiven Einschränkungen nicht verharmlosen und nicht das Leid, das sie mit sich bringen: Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, durchkreuzte Reisepläne, ausgefallene Feiern. Aber die erzwungene Verlangsamung hat auch Chancen: Weniger Autofahrten, keine Dienstreisen, weniger Hektik. Heraustreten aus dem Hamsterrad. Zeit zum Aufräumen, Wegschmeißen, Ausmisten. Mehr Zeit zum Telefonieren, Lesen, Schreiben, Nachdenken. Weniger tun, aber das intensiver.

Jesus „stieg auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten“ (Mt 14,23). Immer wieder zog er sich zurück, um zu sich und zu seinem Gott zu kommen. Die Bibel erzählt an vielen Stellen, dass der Rückzug vom Alltag wichtig ist: Mose erkennt Gott in der Wüste, Elia begegnet ihm im sanften Wind, Paulus erkennt während einer langen Reise nach Damaskus, dass er auf dem Holzweg war. „Gehe in Deine Zelle, und die Zelle wird Dich alles lehren“, sagten die Wüstenväter. Was kann ich in dieser erzwungenen Ruhe, in dieser Einsamkeit lernen? Höre ich Gottes Stimme?

7. Christlicher Glaube braucht Gemeinschaft.

Viele Wochen ohne Gottesdienste, sogar ohne das Osterfest. Monate ohne kirchliche Feiern wie Trauungen, Taufen, Erstkommunionen und Konfirmationen. Für uns Christen war das ein massiver Einschnitt. Natürlich kann man auch zu Hause oder in leeren Kirchen beten. Wir haben aber gemerkt, dass uns dafür die Rituale und die Übung fehlen. Zu Hause eine Andacht halten, gemeinsam beten: Wer kann das und wer traut sich das? Wir merken, dass wir austrocknen, dass der Schwung verloren geht, dass neue Impulse fehlen. Das ist wie beim Home Office: Das funktioniert besser als gedacht, aber irgendwann braucht man die Begegnung, die Tasse Kaffee mit dem Kollegen, das kurze kreative Gespräch.

In der Bibel steht, dass die frühen Christen „einmütig im Gebet verharrten“ (Apg 1,14), „ihr Brot brachen und miteinander Mahl hielten“ (Apg 2,46). Gerade bedrängte Christen wissen, dass sie allein zu schnell müde werden, austrocknen, aufgeben, und suchen daher die Gemeinschaft. Ob diese Gemeinschaft ausgerechnet die formalen Gottesdienste in großen Kirchen sein muss …? Vielleicht finden wir andere Wege. Aber Corona hat uns gezeigt, wie not-wendig die Gemeinschaft ist.

8. Gerade jetzt brauchen wir Toleranz, Geduld und Nächstenliebe.

Die Phase der Lockerung ist auch nicht einfach. Menschen schreien sich an, weil jemand keine Maske trägt. Große Demonstrationen ermöglichen es nicht, den Mindestabstand zu halten. „Corona-Gegner“ (was für ein dummes Wort, Gegner von Corona sind wir alle!) halten alle Maßnahmen für übertrieben. Wegen Falschnachrichten werden Handy-Masten abgebrannt. In Parks und an Stränden liegen die Menschen zu dicht – von engen Flugzeugsitzen ganz zu schweigen. Viele denken wohl, dass die Gefahr vorüber ist, obwohl die Viren noch genauso ansteckend sind wie vorher. Beide Seiten sind genervt, die Aggressivität steigt. Viele sind offensichtlich nicht geduldiger und toleranter geworden.

Jesus sagt: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. … Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Heiden?“ (Mt 5,44ff). Für mich heißt das: Liebt auch die, die sich nicht an die Corona-Regeln halten. Auch sie sind Gottes geliebte Kinder. Auch wenn sie mich nerven und ängstigen. Das ist ein Prüfstein für meine Nächstenliebe. Auch wenn ich immer wieder scheitere, ich will es jeden Tag wieder versuchen.

Wird „nach Corona“ alles wieder so wie vorher?

Ich hoffe nicht! Denn das hieße, wir hätten aus Corona nichts gelernt.
 

Thomas Tauchnitz, 17.06.2020

 

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